Die Straßen waren voll in Brasilien am Wochenende, mitten in der Corona-Krise: Zehntausende Menschen strömten am Sonntag in mehreren Großstädten auf die Straßen und Plätze, um eine Absetzung von Präsident Jair Bolsonaro zu fordern. Fußball-Fanclubs forderten plötzlich Änderungen in der Politik, zum Beispiel der antifaschistische Block unter den Anhängerinnen und Anhängern der Corinthians aus São Paulo, sowie linke Parteien, Bürgerrechtsbewegungen und Protestgruppen vieler Couleur. Es wurden Manifeste verteilt: "Wir sind 70 Prozent!", stand darauf, "Wir stehen zusammen!" oder "Basta!". Eine Riege ehemaliger Präsidenten, Minister und Oppositionsführer rief dazu auf, gegen den Mann an der Staatsspitze eine "breite Front für die Demokratie" zu gründen.
Tatsächlich gäbe es im Augenblick etliche Gründe, Präsident Bolsonaro zu schassen: Ein großer Teil der brasilianischen Bevölkerung ist entsetzt von dessen sorglosem Umgang mit der Coronavirus-Krise. In Rekordzeit ist in dem Land, in dem 220 Millionen Menschen leben, die Zahl der gemeldeten Corona-Toten zum Wochenbeginn auf über 36.000 gestiegen. Das Wirtschaftswachstum ist im freien Fall. Es schadet Bolsonaro auch, dass gegen ihn, seine Söhne und enge
politische Verbündete gerade von der Polizei und Gerichten ermittelt
wird. Dem Regierungschef und seiner Familie werden Korruption, Nähe zu
kriminellen Vereinigungen in Bolsonaros Heimatstadt Rio de Janeiro,
unzulässige Einflussnahme auf die Polizei sowie die massenhafte
Verbreitung von Fake News in den sozialen Medien vorgeworfen. Erst kürzlich gaben 52 Prozent der befragten Brasilianerinnen und Brasilianer in einer Umfrage des Instituts Datafolha an, dass Bolsonaro überhaupt nicht in der Lage sei, das Land zu regieren. Im Parlament wurden inzwischen schon rund 30 Anträge gestellt, Bolsonaro abzusetzen.
Von außen betrachtet entsteht der Eindruck, dass Bolsonaro schon so gut wie abgesetzt sei – aber das ist zu voreilig gedacht. Wahrscheinlicher ist, dass die diversen Amtsenthebungsverfahren bald wieder eingestellt werden: Der Präsident hat zwar keine verlässliche Mehrheit im Parlament, aber die Opposition bringt ebenfalls keine zusammen. Schnell dürfte sich das auch nicht ändern. Hinzu kommt, dass Bolsonaro nach wie vor von den zahlenmäßig stärksten Interessengruppen Unterstützung findet. Agrarwirtschaft und Bergbau könnten sich kaum einen besseren Präsidenten wünschen als ihn.
Pöstchen gegen Stimmen
Seit seinem Amtsantritt haben Bolsonaro und dessen Umweltminister Ricardo Salles ein Naturschutzgesetz nach dem nächsten ausgehebelt, sie haben die Umweltschutzpolizei und die Schutzbehörde für indigene Völker zurechtgestutzt und zum Angriff auf die letzten großen Naturreservate, beispielsweise am Amazonas, geblasen. Außerdem ist Bolsonaro, der sich bis heute auf Veranstaltungen vor seiner Anhängerschaft als eine Art Antipolitiker darstellt, hinter den Kulissen zu allerlei Zugeständnissen bereit. In den vergangenen Wochen haben sich mehrere Politiker und Politikerinnen aus den gemäßigten bürgerlichen Parteien, die eigentlich den rechtsextremen Kurs Bolsonaros ablehnen, zu Unterstützenden des Präsidenten erklärt. Die brasilianischen Medien berichteten von einer ganzen Serie von "Pöstchen gegen Stimmen"-Deals.
Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die im Augenblick über ein Absetzungsverfahren gegen Bolsonaro nachdenken, sind sich ihrer Sache sowieso nicht ganz sicher – genauso wenig wie die Demonstrierenden auf der Straße. Sollte man Bolsonaro gerade jetzt wirklich schassen? Was kommt denn danach? Wer will dieses tief zerstrittene Land auf dem Höhepunkt einer Pandemie und Wirtschaftskrise gerade freiwillig übernehmen?
Falls so ein Absetzungsverfahren durchkäme, würde erst mal Bolsonaros Vize das Amt des Staatschefs übernehmen, der frühere General Hamilton Mourão. In den Augen der Bolsonaro-Kritiker wäre das kaum besser. Mourão, der sich neben dem hitzköpfigen Bolsonaro gern als besonnener Staatsmann aufführt, gilt bei dieser Opposition in Wahrheit als ein noch viel härterer Politiker. Dass der Vizepräsident autoritäre Vorstellungen hegt, wurde erst vergangene Woche erneut deutlich, als er in der Zeitung O Estado de São Paulo erklärte: Die Demonstrierenden gegen die Regierung seien allesamt "Delinquenten", die einem "internationalen Extremismus" anhingen. Die Polizei müsste insofern hart durchgreifen.
Warum also Bolsonaro absetzen, wenn dadurch ein autoritärer General an die Staatsspitze rückt? Tatsächlich sind die Militärs aber der zweite Grund, warum sich Bolsonaro in diesen Tagen nicht so einfach stürzen lässt. Ein Großteil der Militärs hat sich hinter den früheren Hauptmann gestellt, und das verleiht dem Präsidenten in Brasilien große Macht.