Jeden Abend um 18 Uhr, kurz nach Sonnenuntergang, beginnt in Santa Cecília der Lärm. In dem Stadtteil im Zentrum von São Paulo treten Tausende Menschen an ihre Fenster, um eine halbe Stunde lang mit Kochlöffeln auf Pfannen und Töpfe zu trommeln. Unterbrochen wird der Krach nur durch ihre Rufe: Fora Bolsonaro – Raus, Bolsonaro!

Diese Proteste mit Küchenutensilien, Panelaço genannt, waren vor fünf Jahren der Anfang vom Ende der linken Präsidentin Dilma Rousseff. Heute wünschen sich die Pfannentrommler das gleiche Schicksal für den rechtsextremen Jair Bolsonaro.

Die Proteste richten sich mittlerweile gegen alles, wofür Bolsonaro steht: die Zerstörung des Rechtsstaats, der Umwelt und von Minderheitenrechten. Auslöser aber war das Coronavirus. Oder besser gesagt: wie Bolsonaro damit umging. Mitte März, als zum ersten Mal in São Paulo protestiert wurde, waren tausend Fälle im Land registriert. Bolsonaro bezeichnete das Virus als "Grippchen" und die Maßnahmen anderer Länder als "Hysterie". Es schien, als würde sich Brasilien als einziges Land weltweit nicht an die Empfehlungen der WHO halten. Doch dann gab João Doria, der Gouverneur São Paulos, bekannt, dass er, entgegen der Weisung der Zentralregierung, über São Paulo, der größten Stadt der südlichen Hemisphäre, und dessen Metropolregion den Lockdown verhängen werde.

Doria, ein Mitte-rechts-Politiker, trug noch vor Kurzem T-Shirts mit der Aufschrift "BolsoDoria" und unterstützte aus Überzeugung die rechtsextreme Politik des Präsidenten. Seit dem Ausbruch des Coronavirus verwandelt er sich jedoch zunehmend in eine Stimme der Vernunft und Wissenschaft – und in einen Gegner Bolsonaros. Gouverneure in ganz Brasilien folgen dem Beispiel von São Paulo und emanzipieren sich von der Zentralregierung. Und Doria steht plötzlich nicht nur als verantwortungsvoller Politiker da, sondern auch als aussichtsreicher Kandidat für die nächste Präsidentschaftswahl.

Wenige Tests, lange Wartezeiten

In normalen Zeiten ist Santa Cecília in São Paulo ein Ausgehviertel und Wahlheimat für Tausende Studentinnen und Künstler. Nun, sechs Wochen nach Beginn des Lockdowns, ist von der gewohnten Lebendigkeit nichts zu spüren. Bars stapeln ihre Plastiktische hinter vergitterten Toren, Restaurants verkaufen Styropor-Schüsseln mit Reis, Bohnen und Fleisch durch abgesperrte Eingänge. Nur in der Rua Dona Veridiana, rund um die Santa Casa, einem der größten Krankenhäuser São Paulos, drängen sich Menschen: Klinikpersonal und Patienten sowie deren Angehörige.

São Paulo ist Brasiliens größte und wirtschaftlich und kulturell wichtigste Stadt. Sie ist vom Coronavirus landesweit am stärksten betroffen. Die ersten Corona-Fälle in Brasilien wurden in São Paulo festgestellt, nirgendwo im Land sind mehr Menschen erkrankt und gestorben: mindestens 36.000 Menschen sind laut offiziellen Angaben bisher an Covid-19 erkrankt, 3.000 Menschen daran gestorben. 

Nahezu überall in Brasilien ist es schwer, einen Corona-Test zu bekommen. Bei den wenigen Tests, die der Bevölkerung zur Verfügung stehen, dauert es oft drei Wochen, bis ein Ergebnis feststeht. Dazu kommt São Paulos strukturelles Problem: In vielen Wirtschaftsbereichen sind Menschen angestellt, die schlecht bezahlt werden und aus den ärmeren Vororten kommen. Manchmal, wie im Falle von Hausangestellten, wohnen diese Menschen bei den reichen Familien, für die sie arbeiten. Die meisten aber pendeln, oft mehrere Stunden, von den Außenbezirken in die Innenstadt oder in die wohlhabenden Viertel. Die Züge und Busse sind überfüllt, die Menschen sitzen oder stehen dicht nebeneinander; an Hygienevorgaben halten sich die wenigsten.