GEOEPOCHE: Frau Dr. Pekesen, die Türkei im Jahr 2025, ist das eher das Land des Staatsgründers Atatürk oder des aktuellen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan?
Dr. Berna Pekesen: Ob die Grundsätze des Staatsgründers Mustafa Kemal, also Atatürks, noch Bestand haben, das ist eine schwierige Frage. Zwar ist die Türkei auf dem Papier nach wie vor eine Republik, aber de facto haben wir es mit einer Präsidialdiktatur Erdoğans zu tun, in der Menschenrechte, Meinungs- undPressefreiheit mit Füßen getreten werden, die Gewaltenteilung praktisch aufgehoben ist, der Rechtsstaat weitgehend ausgehöhlt.
Und auch wenn das für den Kemalismus so zentrale Prinzip des Laizismus weiterhin in der Verfassung verankert ist, schreitet die Islamisierung des öffentlichen Lebens voran, wird die Trennung zwischen Staat und Religion zunehmend aufgeweicht. Und dennoch halten manche türkische Intellektuelle ein baldiges Revival des Kemalismus für möglich. Sie betonen, dass immer noch ein großer Teil der Türken Atatürk verehrt. Und meinen, dass sich die Entwicklung wieder umkehren könnte.
Woran machen diese Intellektuellen das fest, außer an der andauernden Verehrung Atatürks, die ja im Grunde nichts Neues ist?
Bei den letzten kommunalen Wahlen waren die kemalistischen Oppositionsparteien stark. Und es wurden mehr Frauen in die Bürgermeisterämter gewählt denn je. Laizistisch eingestellte Frauen. Das interpretieren viele Beobachter als Zeichen dafür, dass die Menschen sich danach sehnen, wieder in einer laizistischen Republik zu leben.

Auf den Trümmern des Osmanischen Reiches errichtet Mustafa Kemal ab 1923 die moderne Türkei – oder besser: Er erfindet sie. Mit Reformen, die alle Lebensbereiche umwälzen, formt der später Atatürk genannte Staatsmann die junge Republik nach dem Vorbild westlicher Nationen. GEO EPOCHE über gut 100 Jahre türkischer Geschichte – überall, wo es gute Zeitschriften gibt, etwa im GEO Shop
Der Laizismus, also die strikte Trennung von Staat und Religion, ist eines der wichtigsten Prinzipien, auf denen Atatürk ab 1923 die türkische Republik errichtet hat. Aber Sie sagen es, Erdoğan hebt diese Trennung zunehmend auf. Ist die Türkei noch ein laizistischer Staat oder schon ein islamischer?
Das ist noch nicht zu Ende verhandelt. Der Islam hat einen großen Einfluss in der gegenwärtigen Politik und Gesellschaft. Er ist sehr präsent und steht im Dienst von Erdoğans Präsidialregime. Die islamischen Würdenträger sind die Komplizen der Macht. Sie predigen politisch; Imame und andere Religionsvertreter üben soziale Kontrolle aus. Um das zu bestärken, muss Erdoğan keine offiziellen Gesetze erlassen.
Es reicht, wenn er konservativ-muslimische Standpunkte vertritt, etwa sagt, Abtreibung sei Mord, oder dass er sich wünsche, Frauen würden mehr Kinder bekommen. Solche Sprüche aus seinem Mund entfalten eine enorme gesellschaftliche Wirkung.
Aber spricht Erdoğan da nicht einfach Gedanken seiner muslimischen Anhänger aus, die eben keinen Laizismus wollen?
Es stimmt, viele Anhänger der Erdoğan-Partei AKP, also islamisch-konservative Wähler, halten den Laizismus für unvereinbar mit ihrer Lebenswelt. Sie setzen ihn gleich mit massiver Einschränkung der Religionsausübung, ja mit dem Tod der Religion. Das stimmt aber nicht, Laizismus besagt lediglich, dass Glaube Privatsache ist, und der Islam war auch unter Atatürk immer gelebte Religion. Die Kemalisten haben die Religion, den Islam nicht zerstört.