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Zweite Wahl nach neuen Regeln

von Niels Kadritzke | 21. Juni 2023

Dieser Text ist nicht nur eine erweiterte und detailliertere Fassung der Analyse, die nach den ersten Wahlen vom 21. Mai in der Juni-Ausgabe von Le Monde diplomatique erschienen ist. Er gibt auch einen Ausblick auf die zweite Wahl am 25. Juni, mit der die konservative Nea Dimokratia (ND) von Kyriakos Mitsotakis ihren ersten Wahlsieg in eine klare parlamentarische Mehrheit umm�nzen will. Am Ende dieses Textes gehe ich kurz auf das tragische Schiffsungl�ck ein, das sich zehn Tage vor der zweiten Wahl unweit der griechischen S�dwestk�ste ereignet hat. Doch der Tod von mindestens 600 Menschen hat die ND nicht etwa zum �berdenken ihrer „harten aber gerechten“ Fl�chtlingspolitik veranlasst. Stattdessen verspricht sie ihrer W�hlerschaft die Fortsetzung ihrer „patriotischen“ Politik, deren oberstes Ziel nicht die Rettung, sondern die Abwehr von Fl�chtenden ist.


Athener Wahllokal, 21. Mai 2023
� Petros Giannakouri/picture alliance/AP

In Griechenland tobt ein zweiter Wahlkampf. Die griechischen B�rgerinnen und B�rger haben der ND von Regierungschef Kyriakos Mitsotakis bei der Wahl vom 21. Mai zwar einen klaren Sieg, aber keine absolute Mehrheit in der Vouli, dem griechischen Parlament, beschert. Deshalb l�sst Mitsotakis sein Volk am 25. Juni zu einem zweiten Anlauf antreten. Bis zu diesem Zeitpunkt amtiert eine gesch�ftsf�hrende Regierung unter dem Vorsitz des Obersten Richters Ioannis Sarmas, die von Staatspr�sidentin Katerina Sakellaropoulou berufen wurde.

F�r die griechischen Parteien bedeutet dies einen weiteren Wahlfeldzug innerhalb weniger Wochen. Doch das Ergebnis vom 21. Mai hat die parteipolitische Konstellation auf eine Weise ver�ndert, dass man von zwei getrennten Feldz�gen reden muss. Den einen f�hrt die ND, die im zweiten Anlauf eine m�glichst sichere absolute Parlamentsmehrheit erringen will, im Idealfall 180 der 300 Sitze, die gewisse Verfassungs�nderungen erm�glichen w�rde. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die konservative Regierungspartei nicht nur im Reservoir der „politischen Mitte“, sondern auch im T�mpel rechtsextremer Kleinparteien fischen.

Der andere Wahlkampf spielt sich in der linken H�lfte des politischen Spektrums ab, wo die sozialistische Syriza und ihr Vorsitzender Alexis Tsipras ihre seit 2012 etablierte Hegemonie gegen die sozialdemokratische Pasok zu verteidigen hat. Da beide Parteien selbst als Tandem null Chancen auf einer Mehrheit haben, sind sie vornehmlich darauf aus, sich gegenseitig Stimmen abzujagen. Das spielt der Strategie von Mitsotakis in die H�nde, der sich in fast �berparteilicher Pose als Garant der politischen Stabilit�t darstellen kann. Und so kann man in den Wochen vor der zweiten Wahl in den TV-Magazinen fast t�glich dieselbe Konstellation beobachten: Die Studiog�ste, die f�r die Syriza und die Pasok sprechen, beschimpfen sich gegenseitig in gehobener Lautst�rke, und zwar synchron, sodass ihre Argumente schon akustisch nicht zu verstehen sind, w�hrend der Vertreter der ND – in der Regel der Parteisprecher oder ein prominenter Minister – seine Kontrahenten von der Seite betrachtet und gen�sslich schmunzelt.

Wie es zu dieser Konstellation kommen konnte, erschlie�t sich nur, wenn man das Wahlergebnis vom 21. Mai genauer ansieht.

Zweite Wahl – mit ver�nderten Spielregeln

Der Urnengang vom 21. Mai war im Grunde eine gigantische Meinungsumfrage, bei der alle griechischen B�rgerinnen und B�rger angesprochen waren, von denen knapp 61 Prozent ihre Meinung per Stimmzettel offenbarten. Als Wahlvorgang war diese Abstimmung nur ein Probelauf, denn allen Beteiligten war von vornherein klar, dass ein zweiter Urnengang folgen w�rde. Da die absolute Mehrheit der 300 Parlamentssitze f�r die ND unerreichbar war, braucht Ministerpr�sident Kyriakos Mitsotakis f�r seine Wiederwahl eine weitere Abstimmung – und zwar mit ver�nderten Spielregeln.

Bei dieser zweiten Wahl gilt nicht mehr das reine Verh�ltniswahlrecht, das die Tsipras-Regierung 2016 durchgesetzt hatte. Die Mitsotakis-Regierung hat dieses „gerechteste“ aller Wahlverfahren bereits ein halbes Jahre nach ihrem Amtsantritt im Juli 2019 wieder abgeschafft. Deshalb wird am 25. Juni wieder nach einem „verst�rkten Verh�ltniswahlrecht“ abgestimmt, das in Griechenland seit 2004 praktiziert wurde. Dieses Wahlrecht beg�nstigt die st�rkste Partei, der – je nach ihrem Stimmenanteil – ein Bonus von 30 bis 50 Sitzen in der Vouli zugeteilt wird.(1)

Der Bonus f�r die st�rkste Partei bedeutet, dass die ND am 25. Juni die absolute Mehrheit von 151 Parlamentsmandaten erreichen wird. Das ist zwar so gut wie, jedoch nicht hundert-prozentig sicher. Deshalb hat Mitsotakis bereits angek�ndigt, falls seine Partei auch nach der zweiten Wahl keine „starke Alleinregierung“ bilden k�nne, werde es „mit mathematischer Sicherheit“ zu einer dritten Wahl kommen. Und die w�rde im Ferienmonat August stattfinden. Im Grunde ruft Mitsotakis seinem W�hlervolk zu: „Wenn ihr mich nicht w�hlt, mache ich euch eure Ferien kaputt.“(2)

Drohung mit einer dritten Wahl

Das Drohszenario ist verfassungsrechtlich zul�ssig, aber ein �beraus zynisches Man�ver. W�rde Mitsotakis damit ernst machen, k�me das f�r die Staatskasse ziemlich teuer. Darauf hat ausgerechnet sein eigener Wirtschaftsminister Adonis Giorgiades hingewiesen. Der stellvertretende ND-Vorsitzende, der sich zugleich als Marktschreier des rechtspopulistischen ND-Fl�gels bet�tigt, hat der Syriza vorgerechnet, sie habe durch die Einf�hrung des Proportionalwahlrechts die Staatskasse mit 400 Millionen Euro belastet. Denn so viel m�sse man nach der „unfruchtbaren“ Abstimmung vom 21. Mai f�r die Durchf�hrung der zweiten Wahl ausgeben.(3) Die von Mitsotakis angedrohte dritte Wahl erw�hnte Georgiades nicht.

Mit ihren 40,8 Prozent vom 21. Mai w�rde die ND am 25. Juni dank des Bonus-Wahlrechts auf 171 Sitze kommen. Georgiades nannte als Zielmarke sogar 180 Mandate, mit denen gewisse Verfassungs�nderungen m�glich w�ren. Aber er wurde von Mitsotakis zur�ckgepfiffen, der sich eher Sorgen macht, dass bei der zweiten Wahl ein Teil der ND-W�hlerinnen und W�hler angesichts der klaren F�hrung zu Hause bleiben k�nnte. Der bleut seinem Anhang seit dem 21. Mai zweimal t�glich ein: Am Morgen des 25. Juni sind die Wahlurnen leer – es liegt an euch, sie erneut mit den richtigen Stimmen zu f�llen.

Eine geringere Wahlbeteiligung ist nicht die einzige Gefahr, die Mitsotakis im Auge haben muss. Am 21. Mai ist eine neue Partei namens Niki (Sieg) aus dem Stand auf 2,9 Prozent gekommen. Sollte diese ultrakonservative Partei eines Theologen, der die Nation im Geist des „orthodoxen Griechentums“ umerziehen will, die 3-Prozent-H�rde �berwinden, w�rde sich die Schwelle f�r das Erreichen der absoluten Parlamentsmehrheit erh�hen. Um 180 Sitze zu erringen, m�sste die ND bei einem F�nf-Parteien-Parlament 43,5 Prozent schaffen, bei einem Sechs-Parteien-Parlament w�ren 45,5 Prozent erforderlich, bei einem Sieben-Parteien-Parlament sogar 47 Prozent.

Nach den letzten Umfragen sieht es eine Woche vor den zweiten Wahlen so aus, als k�nnten tats�chlich sieben, wenn nicht sogar acht Parteien den Einzug in die neue Vouli schaffen. Die linksnationalistische Partei Plevsi tis Elevhterias (Kurs der Freiheit) hat sehr gute und die ultra-orhodoxe Niki ziemlich gute Chancen die 3-Prozent-H�rde zu �berwinden. Und auch die linke MeRA25 (bei uns eher als die Varoufakis-Partei bekannt) n�herte sich bei den letzten Umfragen wieder der 3-Prozent-Schwelle. Damit w�rde der Stimmenanteil der Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind, auf unter 5 Prozent zur�ckgehen (bei den Wahlen vom 21. Mai lag dieser Anteil bei 12,5 Prozent). In dem Fall k�nnte Mitsotakis mit den 40,8 Prozent vom 21. Mai eine absolute Parlamentsmehrheit von rund 160 Sitzen erzielen, nicht aber die ersehnten 180 Sitze. Was das f�r die Wahlstrategie der ND bedeutet, werde ich weiter unten darstellen.

Warum schon wieder Mitsotakis?

Obwohl es f�r die absolute Mehrheit erwartungsgem�� nicht gereicht hat, waren die ersten Wahlen f�r Mitsotakis ein unerwarteter Erfolg. Mit 40,8 Prozent der W�hlerstimmen hatten er und seine Partei nicht gerechnet.(4) In griechischen Medien war sogar von einem „Erdbeben“ die Rede, das von „seismischen Verschiebungen“ in der Parteienlandschaft k�nde. Das konservative Lager feierte die „triumphale Best�tigung“ der ND-Regierung, frohlockte aber noch mehr �ber die „vernichtende Niederlage“ der Linkspartei Syriza, die um mehr als 20 Prozentpunkte abgeh�ngt wurde. Die 20,1 Prozent f�r Syriza und Oppositionsf�hrer Alexis Tsipras bedeuten, dass sie gegen�ber den letzten Wahlen im Juli 2019 ein Drittel ihres W�hleranhangs eingeb��t hat.(5)

Angesichts dessen verk�ndeten einige der ND zugeneigte Kommentatoren bereits den „Anfang vom Ende” der Syriza. Es w�re die Erf�llung eines Traums, den ein prominenter Vertreter des rechten Parteifl�gels schon 2019 als Endziel der konservativen Strategie definiert hatte. Damals erkl�rte Makis Voridis, dem Mitsotakis das wichtige Innenministerium anvertraut hat, die ND-Regierung m�sse daf�r sorgen, dass die Linke in Griechenland nie wieder an die Macht kommt. Die vier Jahre Tsipras-Regierung sollten eine „Parenthese“ bleiben.

Blaue Landkarte mit roten Fleck

Danach sieht es tats�chlich aus, wenn man die politische Landkarte nach dem 21. Mai betrachtet. Die griechische Wahllandschaft ist monochrom blau, bis auf einen roten Flecken im �u�erten Nordosten. Die Pr�fektur Rhodopen ist die einzige von 59, in dem die Syriza st�rkste Partei geblieben ist, was sie einem Kandidaten verdankt, der die lokale muslimische Minderheit repr�sentiert (dazu unten mehr).

Der Verlust der �brigen 7 Wahlbezirke, in der sich die Linkspartei beim Wahlsieg der ND von 2019 noch behaupten konnte (darunter alle vier Wahlkreise in Kreta), war ebenso bitter wie der Verlust von landesweit fast 600.000 Stimmen. Das Wegbrechen eines vollen Drittels ihres W�hleranhangs – bei leicht gestiegener Wahlbeteiligung – hat die Partei in eine Schockstarre versetzt. Auf dieses Desaster war niemand vorbereitet.

Allerdings hatte die Syriza-F�hrung auch nicht angenommen, dass man am 21. Mai die ND �berholen k�nne. Man rechnete mit einem R�ckstand von drei bis f�nf Prozentpunkten, bei einem Stimmenanteil von deutlich mehr als 30 Prozent. Damit wollte man eine Anti-Mitsotakis-Dynamik entfachen, die der Linkspartei in den darauffolgenden Wahlen die Bonussitze der st�rksten Partei verschaffen w�rde. Auf dieser Basis hoffte man eine „progressive Koalition“ zu bilden, mit der sozialdemokratischen Pasok als Juniorpartner.

Dieses Wunschszenario entfaltete offenbar eine autosuggestive Wirkung. Sie verf�hrte Tsipras dazu, noch in der Vorwahlwoche landauf und landab zu verk�nden, Mitsotakis sei in heller Panik und ahne bereits, dass seine Tage in der Villa Maximos (dem Amtssitz des Regierungschefs) gez�hlt seien. Und das, obwohl die letzten Umfragen vor den Wahlen der Syriza einen R�ckstand von sieben bis acht Prozentpunkte hinter der ND prognostizierten. Doch von solchen Warnzeichen lie� sich Tsipras nicht beirren. Die entscheidende Umfrage findet in den Wahlkabinen statt, erkl�rte er immer wieder.

Dieser Ausspruch wirkt im R�ckblick besonders grotesk, weil das Wahlergebnis die demoskopischen Umfragen tats�chlich dementierte – allerdings ganz anders, als Tsipras sich und dem Wahlvolk einreden wollte. Die Fehlprognosen der Meinungsforscher �ber die Wahlen vom 21. Mai waren so eklatant, dass ich sie an dieser Stelle ausf�hrlicher darstellen will, zumal der Fall �ber Griechenland hinaus interessant ist.

Das Desaster der Demoskopen

Alle griechischen Meinungsforschungsinstitute, die regelm��ig Umfragen f�r die Medien, aber auch diskrete Stimmungsbilder f�r die Parteien produzieren, sahen ihre Befunde durch das Wahlergebnis widerlegt. Besonders blamabel war eine in der Wahlforschung fast einmalige Fehldiagnose bei den exit polls, die sechs Institute gemeinsam verantworten.

Zun�chst die demoskopischen Daten. Seit Beginn der Amtszeit der ersten Mitsotakis-Regierung hatten die Meinungsforscher der ND durchgehend einen klaren zweistelligen Vorsprung vor der Syriza bescheinigt. Am weitesten hatte sich die Schere zwischen der Regierungspartei und der gr��ten Oppositionspartei im Sommer 2020 ge�ffnet, als die ND (nach der success story einer relativ umsichtigen Corona-Strategie) mit 45 Prozent Zustimmung um fast 20 Prozentpunkte vor der Syriza lag. Ende 2021 begann dieser Vorsprung allm�hlich zu schmelzen. Eine Reihe von Skandalen bescherte der ND demoskopische Einbu�en, die im Fall des Abh�rskandals von 2022 noch begrenzt waren, aber nach dem Zugungl�ck vom 28. Februar 2023 deutlich zu Tage traten. Mitte M�rz lag die ND in mehreren Umfragen nur noch um drei bis f�nf Prozentpunkte vor der Syriza.

Doch in den zwei Monaten bis zum Wahltermin am 21. Mai nahm der Vorsprung der Regierungspartei wieder zu. Bei den letzten elf Umfragen lag die ND im Durchschnitt um 6,2 Prozentpunkte vor der Syriza. Und die vier Umfragen der Vorwahlwoche zeigten einen Vorsprung zwischen 6,7 und 7,3 Prozentpunkten (f�r die ND 36 bis 38 Prozent, f�r Syriza 28,5 bis 30,5 Prozent der W�hlerstimmen).

Diese demoskopischen Befunde, die von der politischen Klasse und von der breiteren �ffentlichkeit als „Wahlprognosen” verstanden wurden, untersch�tzten das tats�chliche Ergebnis f�r die ND um durchschnittliche 4 Prozent, w�hrend sie das f�r die Syriza um durchschnittlich 9 Prozent �bersch�tzten. F�r die drittst�rkste Partei, die Pasok, ermittelten die Umfragen eine um 2 bis 3 Prozent zu niedrige Stimmenzahl.

Noch schockierender – und f�r die Demoskopen blamabler – war die Fehlermarge bei den Exit polls, die am 21. Mai um 19 Uhr bei Schlie�ung der Wahllokale verk�ndet wurden. Das von sechs Instituten durch Befragung nach der Stimmabgabe vorausgesagte Wahlergebnis lautete: Zwischen 36 und 40 Prozent f�r die ND; zwischen 25 und 29 Prozent f�r die Syriza; der Abstand betrug also elf Prozentpunkte.(6) Zwei Stunden sp�ter zeigte die erste Hochrechnung, dass die Regierungspartei �ber 41 Prozent und die Syriza unter 21 Prozent liegen w�rde. Der R�ckstand der Opposition betrug also mehr als 20 Prozentpunkte, fiel also noch um neun Prozentpunkte h�her aus, als die Exit polls ermittelt hatten.

Wie aufrichtig waren die Antworten?

Der �konomie-Dozent Sotiris Georganas (City University of London) hat in der Kathimerini vom 3. Juni 2023 dargelegt, welche Probleme bei demoskopischen Umfragen zu l�sen sind. Die Institute m�ssen zun�chst ein hinreichend repr�sentatives Sample von Befragten festlegen. Sodann m�ssen sie realistisch ermitteln, wer �berhaupt w�hlen geht, und vor allem beurteilen, ob die Antworten der Befragten als hinreichend aufrichtig gelten k�nnen. Die ermittelten „nackten Daten“ sind also nur das Rohmaterial f�r die Einsch�tzung des „W�hlerwillens“. Auf dieser Basis nehmen die Demoskopen eine zus�tzliche „Gewichtung“ vor, die sich auf Datenaggregate von fr�heren Umfragen und auf weitere vermutete Einflussfaktoren st�tzt.

Laut Georganas war bei den Wahlen vom 21. Mai bereits die Erhebung realistischer Daten durch mehrere Faktoren erschwert:
- Viele der Angesprochenen verweigerten die Mitwirkung an den Umfragen aus Frust oder aufgrund eines generellen Misstrauens (einige Interviewer berichteten, dass bei ihren Telefonkontakten jede dritte angesprochene Person sofort wieder aufgelegt hat).
- Die „Aufrichtigkeit“ mancher Antworten war zweifelhaft, insbesondere bei Anh�ngern „stigmatisierter“ Parteien, die sich auch bei anonymisierten Umfragen nicht zu ihrer Pr�ferenz bekennen wollen.
- Eine realistische Einsch�tzung der Wahlbeteiligung wurde dadurch erschwert, dass ein extrem hoher Anteil der Befragten (19 Prozent) bis kurz vor dem Wahltermin noch nicht wusste, ob und wen sie w�hlen w�rden.

Dass viele Befragte eine Aussage verweigerten, f�hrten die Institute unter anderem darauf zur�ck, dass im Wahlkampf vor allem die Linksparteien von „gekauften Umfragen“ (zugunsten der Regierung) gesprochen hatten. Alexis Tsipras selbst hatte vor den Wahlen ge�u�ert, eine Mehrzahl der Syriza-W�hler verweigere bei Umfragen die Mitarbeit. Damit wollte er die schlechten Prognosen f�r seine Partei „weg erkl�ren“ und neue Siegeszuversicht zu verbreiten.

Institute in Erkl�rungsnot

Aber die Meinungsforschungsinstitute zogen daraus ihre eigenen Schl�sse. Angesichts der unterstellten Verweigerungshaltung vieler Syriza-Anh�nger haben sie deren Anteil im Nachhinein „nach oben angepasst“. Das behaupteten sie jedenfalls in einer gemeinsamen Stellungnahme, mit der sie ihre Fehlprognosen nachtr�glich zu erkl�ren versuchten.(7) Zu dieser „Umgewichtung“ der Syriza-Zahlen trug auch eine Lehre aus der Vergangenheit bei, die sich allerdings als falsch erwies. Vor den letzten Wahlen vom Juli 2019 hatten fast alle Institute den Stimmenanteil der Linkspartei deutlich untersch�tzt: Sie hatten ihr weniger als 30 Prozent prognostiziert, w�hrend sie tats�chlich auf 31,5 Prozent kam.

Die Demoskopen verwiesen noch auf einen weiteren Faktor, der zur �bersch�tzung der Syriza-Stimmen beigetragen habe: auf den ungew�hnlich hohen Anteil von Sp�tentscheidern. Wie sich bei den Exit polls herausstellte, haben sich 19 Prozent aller W�hlerinnen und W�hler tats�chlich erst am Wahltag – oder sogar erst hinter dem Vorhang – f�r eine Partei entschieden (bei fr�heren Wahlen waren es allenfalls 10 Prozent).

Wie die einzelnen Institute diese „stummen Stimmen“ interpretiert haben, wei� man nicht. Aber offenbar gingen alle mehr oder weniger von einer „Normalverteilung“ dieser Stimmen aus, oder unterstellten sogar eine Tendenz zur Syriza. Das erwies sich als gravierende Fehlerquelle, denn von diesen Sp�tentscheidern stimmten 51 Prozent f�r die ND und nur 13 Prozent f�r Syriza.(8)

Der dritte Faktor, der zu der Fehlprognose beitrug, waren Entwicklungen in den letzten Tagen vor den Wahlen. Die Institute verwiesen insbesondere auf eine �u�erung des Syriza-Vertreters Giorgos Katroungalos, die als Hinweis auf Syriza-Pl�ne f�r h�here Steuern und Abgaben der Freiberufler verstanden wurde (dazu weiter unten mehr). Ein Experte von Metron Analysis berichtete, sein Institut habe zwei Tage vor den Wahlen einen Absturz der Syriza um 4 Prozent gemessen. Das Meinungsforschungsinstitut Pulse hatte kurz vor den Wahlen bei der Gruppe der Freiberufler einen Vorsprung der ND vor der Syriza zwischen f�nf und zehn Prozentpunkten ermittelt; am Wahltag waren es �ber 40 Prozentpunkte.(9)

Wenn die selbstkritischen Erl�uterungen der demoskopischen Institute auch nur im Ansatz zutreffen, hat die Linkspartei ihre eigenen Vorwahl-Illusionen zum gro�en Teil selbst produziert. Das Misstrauen gegen�ber den Umfrage-Instituten, das fest in der DNA der griechischen Linken verankert ist, war schon immer �bertrieben. Dass die Meinungsforscher ihren Auftraggebern – ob TV-Sender oder Printmedien – nach dem Munde reden, wie die st�ndige Rede von „gekauften Umfragen“ unterstellt, ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil die Institute kommerzielle Unternehmen sind, die den Gro�teil ihrer Einnahmen nicht mit W�hlerumfragen, sondern mit anderen demoskopischen Auftr�gen gerieren. Deshalb sind fehlerhafte Wahlprognosen f�r sie gesch�ftssch�digend. Das gilt erst recht f�r einen f�rchterlichen Betriebsunfall wie die falschen Zahlen der Exit polls vom 21. Mai.

Von Wolke Sieben auf den Boden der Tatsachen

Da diese falschen Zahlen unter anderem auf das „linke Misstrauen“ gegen�ber den demoskopischen Instituten zur�ckgingen, wurden nicht nur die Meinungsforscher von der Syriza get�uscht, sondern auch die Syriza selbst von ihren „linken Vorurteilen“. Auch deshalb waren die Exit polls, die um 19 Uhr �ber die TV-Sender verk�ndet wurden, f�r die Linkspartei so schockierend. Aber erst die Hochrechnung zwei Stunden nach Schlie�ung der Wahllokale offenbarte das volle Ausma� des Syriza-Desasters. Tsipras st�rzte von Wolke sieben in die brutale Realit�t ab.


Syriza-Anh�nger verfolgen die �bertragung der Exit polls am Klafthmonos-Platz in Athen
� Michael Varaklas/picture alliance/AP

Das selbst erzeugte Trugbild soll Tsipras – nach Berichten aus der Parteizentrale – seinen Genossinen und Genossen an der Basis angelastet haben. Die h�tten ihn �ber die Stimmung im Lande nicht realistisch informiert, klagte der Parteivorsitzende. Doch f�r die Pflege von Illusionen ist vor allem der Empf�nger realit�tsferner Botschaften verantwortlich. Das musste Tsipras schlie�lich selbst eingestehen, als er vier Tage nach den Wahlen vor dem Zentralausschuss der Partei die pers�nliche Verantwortung f�r die Niederlage �bernahm.

Von einem R�cktritt war nicht die Rede, obwohl der Vorsitzende kurz vor den Wahlen erkl�rt hatte, bei mehr als sechs Prozentpunkten R�ckstand gegen�ber der ND werde es „Sanktionen“ geben. Auf der Parteikonferenz konnte dieses Thema nicht zur Sprache kommen, weil die Parteif�hrung beschlossen hatte, nach der kritischen Bestandsaufnahme des Vorsitzenden keine weiteren Redebeitr�ge zuzulassen. Aber es h�tte ohnehin niemand den R�cktritt von Tsipras gefordert, weil alle wissen: Ohne ihren charismatischen Anf�hrer w�rde die Partei noch mehr Stimmen verlieren.

Genau das macht das Dilemma der Syriza nach dem 25. Mai aus. Ein Kolumnist der linken Zeitung Efimerida ton Syntakton formulierte es so: F�r die Partei ist Tsispras „sowohl ein As als auch eine verbrannte Karte“. Und ein publizistischer Intimfeind der Linkspartei frohlockte: „Syriza kann es mit Tsipras nicht schaffen, aber ohne Tsipras auch nicht.“(10)

Der spezielle Wahlkampf zwischen Syriza und Pasok

Was die Linkspartei am 25. Juni schaffen will, ist nicht nur eine Reduzierung des R�ckstandes gegen�ber der ND. Ihre noch wichtigere Aufgabe besteht darin, die drittst�rkste Partei auf Distanz zu halten: die sozialdemokratische Pasok. Die einst von Andreas Papandreou gegr�ndete Partei hatte das Land seit dem Ende der Milit�rdiktatur (1974) insgesamt 18 Jahre lang regiert. Die Pasok hatte noch 2009, unmittelbar vor der Krise, 44 Prozent der W�hlerstimmen gewonnen und die Regierung von Giorgos Papandreou gestellt. Der Absturz Griechenlands in die Finanzkrise lie� auch die Pasok in die Bedeutungslosigkeit abst�rzen. Doch mit ihrem im Dezember 2020 neu gew�hlten Vorsitzenden Nikos Androulakis ist der Partei ein beachtliches Comeback gelungen. Gegen�ber den Wahlen von 2019 konnte sie ihren Stimmenanteil um gut 40 Prozent steigern: von 8,1 auf 11,5 Prozent.

Damit hat f�r die Syriza bereits das Duell mit der Pasok um die Hegemonie in der griechischen Linken begonnen. Sollte sie weiter an Boden verlieren und die Pasok erneut zulegen, k�nnte das eine W�hlerdynamik in Gang setzen, die auf mittlere Sicht die Pasok erneut zur st�rksten Kraft im linken Spektrum machen w�rde. Die Syriza hatte die Pasok bei den Wahlen vom Mai 2012 erstmals �berholt (17 gegen�ber 13 Prozent) und bei den Neuwahlen drei Monate sp�ter bereits abgeh�ngt (27 gegen�ber 12 Prozent). Bei der Wahl vom Januar 2015, aus der die erste Tsipras-Regierung – als Koalition der Linkspartei mit der rechtspopulistischen Anel – hervorging, war die Pasok auf ihren Tiefpunkt abgesunken. Mit ihrem W�hleranteil von 4,8 Prozent lag sie um mehr als 31 Prozentpunkte hinter der Syriza (36,1 Prozent). Bei den n�chsten beiden Wahlen vom September 2015 und vom Juli 2019 blieb sie unterhalb der 10-Prozent-Grenze, die sie erst jetzt wieder durchbrechen konnte.

Damit sieht die Pasok-F�hrung am entfernen Horizont eine Parteienlandschaft aufscheinen, in der sich – wie bis zum Beginn der Grexit-Krise – die traditionelle Rechtspartei ND und die Pasok als Partei der linken Mitte an der Macht abwechseln. So weit ist es noch lange nicht. Aber vor dem Hintergrund dieser „alten Zeiten“ verliert das Wahlergebnis vom 21. Mai erheblich an Dramatik. Was der Syriza eine schwarze Wahlnacht bescherte, ist bei Tageslicht betrachtet keineswegs ein „tektonisches“ Ereignis, wie es die Rede vom politischen Erdbeben suggeriert. Tats�chlich lag der W�hlerzuspruch f�r die ND im Bereich des Erwartbaren und war schockierend nur f�r realit�tsblinde Linke, die Mitsotakis auf der Verliererstra�e sahen. Aber auch der Zuwachs f�r die Pasok war keine �berraschung.

Die Linke und der Krisenzyklus

Beide Entwicklungen best�tigen auf den ersten Blick die Theorie, dass der Aufstieg der Linkspartei nur ein Produkt der Krise ist, dass also ihre Tage mit dem Ende der Krise gez�hlt seien. Und das ist nicht nur das Wunschbild konservativer Beobachter. Auch ein Sozialdemokrat wie Petros Evthymiou, vor 20 Jahren Bildungsminister in der Pasok-Regierung Simitis, interpretiert die Niederlage der Syriza als „Schlusskapitel“ der politischen �ra nach der Junta (1974), „die mit diesen Wahlen ihren Zyklus vollendet hat“.

In dieser Sichtweise steckt ein St�ck unbequemer Wahrheit, die Tsipras und die Syriza lange Zeit verdr�ngt haben. Der Aufstieg der Syriza im Zuge der Krise basierte auf einem Sockel von Pasok-W�hlerinnen und W�hlern, die gut zwei Drittel ihrer Gefolgschaft ausmachten. Einen Teil dieses W�hlerreservoirs hat sich die heutige Pasok am 21. Mai zur�ckgeholt. Und auf mittlere Sicht will sie nat�rlich auch den Rest, um damit die Syriza wieder zu der 5-Prozent-Partei zu machen, die sie vor Beginn der Krise war.

Die zyklische Theorie �ber „Aufstieg und Fall der Linkspartei“ ist jedoch viel zu einfach. Und aus linker Perspektive ist sie vor allem viel zu bequem. Wer den Verschlei� der Syriza als „unvermeidliche“ Entwicklung sieht, dr�ckt sich um die Frage, welchen Anteil die Partei und ihre F�hrung an dem Desaster vom 21. Mai haben. Eine Antwort auf diese Frage setzt eine n�chterne Bestandsaufnahme ihrer W�hlerverluste voraus.

Verluste in alle Himmelsrichtungen

Die Linkspartei hat Stimmen nicht nur verloren, sondern gro�z�gig in alle Himmelsrichtungen verstreut – auf der parteipolitischen wie auf der sozialen Ebene. Von den 1,78 Millionen Stimmen, die sie 2019 verbuchen konnte, verlor sie 10,5 Prozent an die ND, 17,7 Prozent an die Pasok, knapp 4 Prozent an die KKE und knapp 5 Prozent an kleinere linke Parteien. Der gr��ere Teil wanderte also nach rechts: zur ND und zur sozialdemokratischen Pasok; der kleinere Teil nach links, zu der orthodox-leninistischen KKE, die mit einem Stimmenanteil von 7,2 Prozent ihre Parlamentsfraktion verst�rken konnte; wie auch zur MeRA25 von Ex-Finanzminister Varoufakis und zu der linksnationalistischen Partei „Kurs der Freiheit“, die beide knapp an der 3-Prozent-H�rde scheiterten.(11)

Entscheidend war allerdings der „Verlust der Mitte“. Auch in Griechenland entscheidet dieses umworbene W�hlerspektrum �ber Sieg und Niederlage. Die W�hlerinnen und W�hler, die sich selbst der politischen Mitte zurechnen, machen ein gutes F�nftel aller Wahlberechtigten aus. Von deren Stimmen gingen 40,6 Prozent an die ND und 25,1 Prozent an die Pasok. F�r die Syriza, deren strategisches Wahlziel die Eroberung der „linken Mitte“ war, stimmten gerade mal 12,4 Prozent.

Das Scheitern dieser Strategie zeigt sich auch auf der sozialen Ebene. Hier erlitt die Partei ihre gr��ten Verluste bei den Klassen und Berufsgruppen, die Tsipras und seine Partei am intensivsten umworben hatten: zum einen die „Armen und Unterprivilegierten“, zum anderen die wichtige Kohorte der Mittelklasse.

Die gr��ten Stimmverluste gegen�ber den Wahlen von 2019 erlitt die Syriza in den proletarisch-kleinb�rgerlichen Vierteln von Athen, Pir�us und Thessaloniki. Aber selbst bei den w�hlenden Arbeitslosen fiel sie von 42 auf 26 Prozent zur�ck. Einzig bei den abh�ngig Besch�ftigten im Privatsektor lag die Linkspartei noch knapp vor der ND. Bei den �ffentlichen Bediensteten dagegen, bei denen sie 2019 noch in F�hrung gelegen hatte, blieb sie um 5,2 Prozentpunkte hinter der ND zur�ck (29,9 gegen�ber 35,1 Prozent). Die Regierungspartei bekam auch bei den Hausfrauen (44,3 Prozent) und Rentnern (46,4 Prozent) fast doppelt so viel Stimmen wie die Syriza; bei der b�uerlichen Bev�lkerung waren es sogar drei Mal so viel.

Den katastrophalsten Einbruch erlebte die Partei bei der Gruppe, die den Kern der griechischen Mittelschichten ausmacht: bei den Freiberuflern. Von denen stimmten 55 Prozent f�r die ND und nur 13 Prozent f�r die Syriza. Der Vorsprung von 43 Prozentpunkten bei dieser sozialen W�hlerkohorte wurde von der ND nur noch in der Alterskohorte der �ber 65-J�hrigen �bertroffen. Aber auch in allen �brigen Altersgruppen hatte die Mitsotakis-Partei einen deutlichen Vorsprung – sogar bei der j�ngsten (17-29 Jahre), bei der die Syriza in allen Vorwahl-Umfragen noch vorn gelegen hatte.

Dramatischer Einbruch in traditionell roten Hochburgen

Besonders schockierend war f�r die Syriza der dramatische Einbruch in den traditionellen Hochburgen der Linken, in denen sie sich selbst bei ihrer Niederlage im Juli 2019 noch gut behauptet hatte. Der Schock war auch deshalb so gro�, weil die Partei sich diesen sozialen Gruppen – von der Arbeiterklasse bis zu den vom sozialen Abstieg bedrohten Kleinb�rgerschichten – zu sicher gewesen war. Aber genau in diesen urbanen Zonen des „Prekariats“ verzeichnete die Linkspartei die gr��ten Verluste: 18 Prozentpunkte im Wahlbezirk West-Attika; 17,5 Prozent im verarmten Westen von Pir�us, 15,9 Prozent in den westlichen Stadtteilen von Athen. Was bedeutete, dass sie in diesen Wahlbezirken um 17 bis 27 Prozentpunkte hinter die ND zur�ckfiel, die ihr Ergebnis von 2019 um sieben bis acht Prozentpunkte verbessern konnte.

Auf das Ergebnis in diesen „Problemzonen“ war Mitsotakis besonders stolz, wie er in seinem ersten Zeitungsinterview nach der Wahl betonte: „F�r mich war besonders eindrucksvoll, was im Athener Westen geschehen ist. Dort haben wir die soziale Seite unserer Partei unter Beweis gestellt. Wenn man uns in Perama [einem von der Werftindustrie gepr�gten Stadtteil, NK] 37 Prozent der Stimmen gibt, hei�t das, dass Menschen, die sehr gro�e Probleme haben, sich um ihre Zukunft, ihre Arbeitspl�tze und ihre Umwelt Gedanken machen.“ Dass diese Leute also das Gef�hl haben, die ND werde ihre Lebensumst�nde verbessern: „Genau darum ging es letzten Endes bei dieser Wahl: Wer packt die tats�chlichen Probleme an.“(12)

Wie wirksam diese Botschaft war, zeigen mehrere Nachwahl-Reportagen auf, die ein Stimmungsbild aus diesen Vierteln vermitteln. Zum Beispiel aus Nikaia, einem Stadtteil von Pir�us, der in den 1920er Jahren als Siedlung von Kleinasienfl�chtlingen gegr�ndet wurde und bis 1940 den programmatischen Namen Kokkinia (das „rote Viertel“) trug.(13) Elvira Krithari gibt in ihrem Bericht in der Kathimerini vom 3. Juni 2023 den Eindruck wieder, dass man hier Mitsotakis auf keinen Fall gew�hlt hat, „weil man ihn mag oder an ihn glaubt.“ Das rote Viertel wurde vielmehr blau, weil die Leute das kleinere �bel gew�hlt haben. Und zwar aus Angst, wie eine W�hlerin der Reporterin erz�hlte: „Ich glaube, die Leute haben vor allem Angst vor dem Unbekannten. Sie sagen dir, das Unbekannte haben sie einmal ausprobiert, und das habe ihnen nichts gebracht.“

Das ist eine Anspielung auf die Regierungszeit der Tsipras-Regierung, die keines ihrer Wahlversprechen von 2015 einzul�sen vermochte, weil sie die Auflagen der „Troika“ exekutieren musste, deren soziale Folgen sie nicht einmal „gerecht“ verteilen konnte. In diesen Vierteln zieht die „Erz�hlung“ der Syriza nicht, wonach sie das Land 2019 am Ende ihrer vierj�hrigen Amtszeit von der strengen Aufsicht der Sparkommissare „befreien“ konnte. Vor allem aber hat sich die Linkspartei weder in Nikaia noch in anderen Vierteln der sozialen Peripherie von Athen und Pir�us ernsthaft bem�ht, eine kommunale Basis aufzubauen, um die Alltagsn�te und -�ngste der Bev�lkerung zumindest kennenzulernen.(14) Und so traten die Wahlkreis-Kandidaten der Syriza wie Abgesandte der Parteizentrale auf, die im Vertrauen auf den Mythos des „roten Viertels“ die ihnen zustehenden Stimmen eintreiben wollten, ohne sich um die konkreten Probleme zu k�mmern.

Eine Rezeptur der Selbstzerst�rung

All die Stimmenverluste der Linkspartei gehen sowohl auf eine illusion�re Strategie als auch auf taktische Fehler zur�ck, die sich zu einer Rezeptur der Selbstzerst�rung summierten. Tsipras selbst hat einen Teil der linken Stammw�hler verprellt, als er in einem Interview �u�erte, die Syriza wolle auch die Stimmen „irregeleiteter“ Ex-W�hler der verbotenen neonazistischen Partei Chrysi Avgi gewinnen. Der Schuss ging nach hinten los, denn er vertrieb tausende engagierter Antifaschistinnen und Antifaschisten in Richtung der KKE und kleiner Linksparteien, die es nicht ins Parlament schafften.

Dass die Syriza keine Hemmungen hatte, in rechten Gew�ssern zu fischen, bewies sie auch mit ihrer Positionierung in einer absurden, chauvinistisch aufgeheizten Debatte �ber das Label „TurkAegean“, das die T�rkei f�r ihre Tourismus-Werbung nutzt. Die Regierung habe gegen diesen „Missbrauch“ nichts unternommen, behauptete Ex-Au�enminister Giorgos Katroungalos vier Wochen vor den Wahlen und gei�elte die „mangelnde Entschlossenheit, unsere nationalen Interessen zu verteidigen.“

Derselbe Katroungalos schaffte es, drei Tage vor den Wahlen die Kohorte der Freiberufler zu verschrecken – die wichtigste Zielgruppe im „Kampf um die Mitte“. Er lie� sich in einer TV-Debatte von einem ND-Kontrahenten zu der Feststellung verleiten, dass diese gro�e Berufsgruppe zu wenig Beitr�ge in die Rentenversicherung abf�hrt. Das ist v�llig korrekt, denn ein Gro�teil der Privat�rzte, Rechtsanw�ltinnen und Handwerker meldet viel zu niedrige Einkommen, womit sie auch ihre Einkommenssteuer minimieren. Aber nat�rlich war die Aussage eine Steilvorlage f�r die ND, die behaupten konnte, die „heimliche Agenda“ der Syriza sehe Beitrags- und Steuererh�hungen f�r die Freiberufler vor. Das wurde von Tsipras zwar umgehend dementiert, der den �belt�ter auch von der Liste der Parlamentskandidaten strich. Aber der Schaden war nicht mehr zu reparieren. Demoskopen sch�tzten den Stimmenverlust, den Katroungalos verursacht hat, auf 3 bis 5 Prozent.

Ein Programm ohne Resultante

Hier zeigt sich das grunds�tzliche Dilemma einer Linkspartei, die ohne politischen Raumgewinn in der Mitte keine Chance auf eine Regierungsmehrheit hat. Nat�rlich muss sie die Mittelklasse umwerben, die viele ihrer fr�heren Privilegien in dem Krisenjahrzehnt verloren hat. Aber sie muss sich vor allem um den Teil der Gesellschaft k�mmern, der von Armut oder sozialer Exklusion bedroht ist. Das sind in Griechenland – auch nach dem Ende der akuten Krise – noch fast 30 Prozent der Bev�lkerung, von denen allerdings viele seit langem nicht mehr w�hlen gehen.

Ein Wahlprogramm, das alle wichtigen Gruppen gewinnen will, muss dennoch eine „Resultante“ haben, argumentiert Tassos Pappas in der linken Zeitung EfSyn. Eine solche Generallinie habe die Syriza nicht erkennen lassen. Vielmehr habe sie allen Zielgruppen das erz�hlt, was die h�ren wollten.(15) Damit schuf sich die Oppositionspartei ein weiteres Problem, das ihr die ND st�ndig vorhalten konnte. Sie musste die Frage beantworten, wer die Zeche bezahlen soll. Die Syriza versprach, die extremen sozialen Ungleichheiten zu mildern, die sich in den Krisenjahren und unter der Mitsotakis-Regierung nachweislich verst�rkt haben. Aber ihre klassisch „sozialdemokratische“ Agenda – h�here Mindestl�hne, h�here Renten, Schutz des Wohneigentums, Verbesserung der �ffentlichen Dienstleistungen, insbesondere des Gesundheitssystems – muss gegenfinanziert werden, ohne umworbene W�hlergruppen abzuschrecken, wie es Katroungalos getan hat.

Auch deshalb brachte die Oppositionspartei ihr „positives“ Programm im Wahlkampf kaum zur Sprache. Stattdessen setzte sie auf „negative“ Themen und betete die Liste der Skandale herunter, die sich Mitsotakis und die ND in vier Jahren geleistet haben: die unverh�llte Subventionierung der regierungsfreundlichen Medien, die Lauschangriffe des von Mitsotakis kontrollierten Geheimdienstes(16); die notorische Vetternwirtschaft; die skandal�se Unterfinanzierung der �ffentlichen Krankenh�user, die sich auch in den hohen Zahlen von Corona-Toten gezeigt hat; das Versagen der staatlichen Kontrolle und Vorsorge, das f�r die Waldbr�nde verantwortlich ist(17), und vor allem f�r die 57 Toten des Zugungl�cks vom 28. Februar.(18)

Fast alle Punkte auf dieser Negativliste sind echte Skandale. Aber von denen wollte das W�hlervolk nichts h�ren. Man hatte sie zur Kenntnis genommen, aber auch abgehakt. Die Skandal-Bilanz hatte auch deshalb nur begrenzte Wirkung, weil die Syriza – als Regierungspartei der Jahre 2015 bis 2019 – von vielen als Teil des „Systems“ wahrgenommen wird, das immer neue Katastrophen hervorbringt. Zu denen geh�rte auch die Waldbrandkatastrophe vom Juli 2018 an der Ostk�ste Attikas, bei der mehr als 100 Menschen zu Tode kamen. Auf das „H�llenfeuer von Mati“, das im �ffentlichen Bewusstsein als Versagen der Tsipras-Regierung abgespeichert ist(19), konnte die ND-Propaganda immer wieder verweisen, um ihre Verantwortung f�r die Katastrophen in ihrer eigenen Regierungszeit zu relativieren.

Stabilit�t oder Chaos

Dass die „negative“ Syriza-Propaganda jenseits der Stammw�hlerschaft nicht ankam, erkl�rt noch nicht, warum Mitsotakis mit der zentralen ND-Parole „Stabilit�t oder Chaos“ so durchschlagenden Erfolg hatte. Dieser Erfolg l�sst sich zu einem erheblichen Teil auf den strategischen Kardinalfehler der Syriza zur�ckzuf�hren.

Tsipras proklamierte als Wahlziel – da eine absolute Syriza-Mehrheit unerreichbar war – eine Koalition der „progressiven“ Kr�fte. F�r griechische Verh�ltnisse ist eine Koalition ohnehin nur eine Art Notregierung, also Symptom einer schweren Krise. Eine „freiwillige“ Koalition von Parteien, die sich die „Beute der Macht“ teilen, ist im politischen System nicht vorgesehen. Dass die Syriza so etwas vorschlug, wurde als Zeichen der Verzweiflung wahrgenommen. Zudem kamen als Koalitionspartner nur zwei Parteien in Frage: die Pasok und die MeRA25. Die Pasok verweigerte sich schon deshalb, weil die neue Parteif�hrung unter Nikos Androulakis nicht als „Juniorpartner“ der Syriza antreten wollte. Vielmehr strebt sie selbst die Dominanz innerhalb der griechischen Linken an, die die alte Pasok in den Krisenjahren verloren hatte.

Der zweite theoretische Partner war die MeRA25 von Jannis Varoufakis. Doch zu einer Koalition mit Varoufakis konnte sich die Syriza nicht klar bekennen, weil sie sonst W�hler und W�hlerinnen der linken Mitte verloren h�tte. Die identifizieren den Finanzminister der ersten Tsipras-Regierung noch immer mit dem Grexit-Szenario, das dem Land im Sommer 2015 drohte.

F�r die ND waren die Rechen�bungen �ber eine m�gliche „progressive Koalition“ jedenfalls ein gener�ses Wahlgeschenk. Sie konnte „das Volk“ nicht nur vor die Alternative Mitsotakis oder Tsipras stellen, sondern auch noch mit der Warnung „Mitsotakis oder Varoufakis“ abschrecken (so ein Kommentator in Ta Nea vom 22. Mai 2023).

Das Luftschloss einer linken Koalition

Aber Varoufakis war auch f�r die Pasok ein rotes Tuch. Schon das machte ein B�ndnis dieser drei Parteien undenkbar. Auch rein numerisch war f�r eine linke parlamentarische Mehrheit noch eine weitere Linkspartei vonn�ten. Allerdings zeigte die KKE der „Koaliton des Fortschritts“ die kalte Schulter. F�r ihren Generalsekret�r Dimitris Kotutsambas ist Alexis Tsipras nur eine „kapitalistische Marionette“ und die Syriza-Regierung (2015-2019) die „schlechteste“, die das Land seit dem Ende der Junta erlebt hat.

Die Absage der KKE an jede Art von „linker“ Koalition war keine �berraschung. Die Kommunistische Partei Griechenlands ist ein Solit�r in der europ�ischen Parteienlandschaft. F�r den Rechtsphilosophen Kostas Douzinas, Direktor des Nikos Poulantzas-Instituts (Thinktank der Syriza), ist die KKE „die orthodoxeste kommunistische Partei der Welt“, die den „realen Sozialismus“ der Vergangenheit verkl�rt und jedes B�ndnis mit einer Linken ablehnt, „die ihre Gewissheiten und ihre Nostalgie nicht teilt“ (EfSyn vom 12. Juni 2023). F�r diese KKE sind Parteien wie Syriza und Pasok ohnehin Verr�ter an der Arbeiterklasse, die das Spiel der Monopole mitmachen.

Das Projekt einer linken Koalition hatte also nicht nur keine ausreichende Basis, es war von vornherein in die Luft gebaut. Und so w�hlten viele W�hler der linken Mitte statt eines Luftschlosses lieber ein bereits stehendes und offenbar solides Geb�ude. Denn statt eines realistischen Gegenentwurfs sahen sie etwas, was Tassos Pappas mit dem griechisch-osmanischen Wort achtarmas beschreibt: Ein einziges Kuddelmuddel, das noch verwirrender wurde, als Tsipras – statt der verweigerten Koalition – ein weiteres „Denkmodell“ ins Spiel brachte. Er schlug eine von Pasok, KKE und MeRA25 tolerierte Minderheitenregierung vor, die von den angesprochenen Parteien nur mit Hohn und Spott bedacht wurde. Ex-Au�enministerin Dora Bakoyanni, die �ltere Schwester von Mitsotakis, bedankte sich bei Tsipras f�r dieses „Geschenk“ an die ND.

In der Efsyn hat Tassos Pappas sehr anschaulich beschrieben, wie dieses achtarmas der Linken auf unentschiedene W�hlerinnen und W�hler wirkte. Er berichtet von dem Anruf eines seiner Leser, der ihm erkl�rte: „Die haben st�ndig nur gestritten, wer linker ist, wer seri�ser ist, wer die besseren L�sungen hat, dem Volk besser dient. Aber auf die zentrale Frage: Wer wird regieren – da kam immer nur blablabla. In Wirklichkeit wollten sie keine Zusammenarbeit, stellten Bedingungen, die nicht erf�llbar waren.“ Der letzte Satz bezieht sich auf die Pasok, deren Vorsitzender Androulakis die Absage an eine linke Koalition in die ultimative Forderung kleidete, auf keinen Fall d�rfe Tsipras Regierungschef werden.(20)

Das Wahlvolk beschw�rt die Normalit�t

„Die B�rger wollen eine starke Regierung mit einem Horizont von vier Jahren", erkl�rte der Regierungschef am Tag danach seinen unerwartet hohen Wahlsieg, zu dem die Opposition ma�geblich beigetragen hatte. Stabilit�t oder Chaos, lautete die Zauberformel des Kyriakos Mitsotakis. Aber erst Tsipras’ unrealistische Vorschl�ge verliehen diesem Slogan seine fast ultimative �berzeugungskraft.

Noch entscheidender war jedoch ein psychologischer, also irrationaler Faktor: das Bed�rfnis eines Gro�teils der griechischen Gesellschaft, zu einer Art Normalit�t zur�ckzukehren, nachdem der „Zyklus des Staatsbankrotts” abgeschlossen ist. Die Normalit�t mag eine andere sein als vor der gro�en Krise, und in mancher Hinsicht nur ein Schein. Aber viele Leute sind bereit, der Erz�hlung zu glauben, dass es wieder aufw�rts geht, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt – auch wenn viele der neuen Stellen nur schlecht bezahlte Saisonjobs in der Tourismusbranche sind –, wenn der Mindestlohn steigt – auch wenn die Kaufkraft zu den niedrigsten der Eurozone geh�rt –, wenn �rmere Familien mit Einkaufscoupons begl�ckt werden – auch wenn ihr Warenkorb damit immer noch teurer ist als vor einem Jahr. Und das alles garniert mit der neoliberalen Trickle-down-Erz�hlung, dass irgendwann alles besser wird, weil die Regierung mit ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik ausl�ndische Investionen anzieht.

Die von einer hochprofessionellen PR-Maschine verbreitete Botschaft wurde von vielen schon deshalb geglaubt, weil sie die schlechten Nachrichten satt haben. Ein kluger Kommentator formulierte es so: Wir leben in einer Gesellschaft, die von der Intensivstation kommt. Da h�ren die Leute lieber die „Best�tigung ihrer Hoffnungen“ als die d�stere Syriza-Warnung, „dass das Land schon wieder am Rand des Abgrunds stehe“.(21)

Die harten Wahlkriterien

Und was ist mit den Skandalen, die das Land in den letzten Wochen und Monaten bewegt haben? Die sind zwar nicht vergessen, werden aber von n�chternen Erw�gungen �berlagert. Eine Umfrage unter den W�hlerinnen und W�hlern vom 21. Mai, welche Kriterien f�r ihre Stimmabgabe die wichtigsten waren (wobei die Befragten drei Kriterien nennen konnten), ergab folgende Rangfolge: An der Spitze lag das Kriterium „ein gut funktionierender Staat“ mit 32 Prozent; knapp dahinter die Themen Wirtschaft und nationale Fragen, also Au�enpolitik; an vierter Stelle folgte das Kriterium „besseres F�hrungspersonal“.


Kyriakos Mitsotakis schw�rt seine Anh�nger auf die neue Wahl am 25. Juni ein.
� Nicolas Koutsokostas/picture alliance/NurPhoto

Das hei�t: Die vier wichtigsten Wahlkriterien betreffen Bereiche, in denen die ND und Regierungschef Mitsotakis laut Umfragen regelm��ig besser bewertet werden als die Syriza und Tsipras. Die Kriterien, die f�r die Oppositionspartei sprechen, folgen erst auf Platz 5 und 6: der Kampf gegen die Armut und gegen Korruption. Auf den letzten beiden (von 14) Pl�tzen finden sich die Themen, mit denen die Linkspartei gegen die Regierung punkten wollte: das Eisenbahnungl�ck und der Abh�rskandal (mit 6 und 5 Prozent).

Das bedarf keines Kommentars, aber einer kleinen Anmerkung: ND-Verkehrsminister Karamanlis, der nach dem Tempi-Ungl�ck zur�ckgetreten war, durfte sich gleichwohl am 21. Mai um das Direktmandat seines nordgriechischen Wahlkreises Serres bewerben. Er erzielte f�r die ND das landesweit sechstbeste Ergebnis.

Ein abschlie�ender Hinweis, der nicht die n�chste Regierungsperiode, sondern die nahe Zukunft betrifft: Griechenland wird dieses Jahr einen touristischen Rekordboom erleben, f�r den bereits Reinigungs- und K�chenpersonal aus Pakistan und Bangladesch angeheuert wird. Aber die Klimaforscher sagen auch neue Hitzerekorde voraus, die das Thema hochkochen werden, das in diesem Wahlkampf alle Parteien gemieden haben. Weder ND, noch Syriza, noch Pasok, noch KKE wollten die B�rgerinnen und B�rger mit der Klimakrise konfrontieren, die ihr Land in eine subtropische Zone verwandeln wird. Die wichtigste Zukunftsfrage wurde nur von zwei gr�nen Kleinsparteien thematisiert. Sie erhielten zusammen nicht einmal ein Prozent der W�hlerstimmen.

Nachtrag

In die „patriotische“ Agenda, mit denen Mitsotakis und die ND den Kleinparteien zu ihrer Rechten noch mehr Stimmen abjagen will, versuchen sie im zweiten Wahlkampf auch die Fl�chtlingstrag�die vom 14. Juni einzubauen. Dass die griechische K�stenwache mittlerweile in den Verdacht unterlassener Hilfeleistung geraten ist, braucht den kommenden Wahlsieger in keiner Weise zu st�ren. Mitsotakis f�hlt sich in seiner harten Linie best�tigt, mit der er schon bei der ersten Wahl vom 21. Mai erfolgreich geworben hat.

Die Fl�chtlingstrag�die im Mittelmeer, bei der in der Nacht zum 15. Juni mindestens 600 Menschen – Kinder, Frauen und M�nner – mit ihrem seeunt�chtigen Boot in die Tiefe gerissen wurden, ist in ihrem genauen Ablauf noch nicht aufgekl�rt. Das gilt auch f�r die Rolle der griechischen K�stenwache (HCG wie Hellenic Coast Guard), die nach internationalem Recht f�r die Rettung der Schiffbr�chigen zust�ndig war, weil sich der 30 Meter lange, mit etwa 750 Menschen �berlastete Fischereitrawler mehr als 24 Stunden lang innerhalb der griechischen „Save and Rescue“-Zone befand. Die SAR-Zone geh�rt nicht zur Hoheitszone, aber der jeweilige K�stenstaat ist in diesem Seegebiet f�r die Seenotrettung zust�ndig.

Als ein Frontex-�berwachungsflugzeug das von Libyen kommende Fl�chtlingsschiff s�dwestlich der Peloponnes-K�ste entdeckte, alarmierte Frontex die HCG, die eines ihrer hochmodernen Patrouillenboote aus Kreta entsandte. Was dieses PPLS 920 bis zum Kentern des Fl�chtlingsboots unternommen oder unterlassen hat, wird von der Staatsanwaltschaft in Kalamata (dem n�chsen HCG-Standort) untersucht. Ein Ergebnis kann vor den Wahlen am n�chsten Sonntag nat�rlich nicht vorliegen. Dennoch ist die Trag�die auf eine Weise zum Wahlkampfthema geworden, die f�r die Streitkultur der griechischen Gesellschaft bezeichnend ist.

Schon jetzt ist absehbar, dass die Regierung das Ungl�ck trotz der ungekl�rten Fragen �ber die Rolle der HCG erfolgreich in ihrem Sinne instrumentalisieren kann. Sie schiebt die ausschlie�liche Verantwortung auf die �gyptische Gang, die mit dem Trawler die Fl�chtlingsroute Libyen-Italien bedient und von ihren „Passagieren“ f�r die Fahrt in den Tod pro Person zwischen 3000 und 6000 Dollar kassiert haben soll. Die griechischen Beh�rden haben unter den 104 geretteten Fl�chtlingen (durchweg M�nner) neun �gypter verhaftet, die jetzt in Kalamata unter Anklage stehen.

Die nationale Pflicht zur Trauer wurde mit dem Ausrufen einer dreit�gigen Staatstrauer abgeleistet. Aber das bleibt eine zynische Geste, wenn zugleich jede Stimme, die Fragen nach der „griechische Verantwortung“ stellt, als unpatriotisch oder gar als „nationaler Verrat“ denunziert wird. Und wenn Regierungschef Mitsotakis bei seinen letzten Wahlkampfauftritten unbeirrt verk�ndet, Griechenland werde an seiner „harten aber gerechten“ Fl�chtlingspolitik festhalten. Was bedeutet: Die „Bewehrung der nationalen Grenzen“ hat Vorrang vor dem Recht der Gefl�chteten auf einen Asylantrag. Deshalb hat die ND in ihrem Wahlkampf den drei Meter hohen Sperrzaun an der Evros-Grenze in Thrazien als nationale Errungenschaft gepriesen und versprochen, dieses Bollwerk entlang der gesamten griechisch-t�rkischen Grenze hochzuziehen. Dabei br�stet sich Mitsotakis immer wieder mit der Bilanz, dass seine Regierung die „Flut“ aus dem Osten erfolgreich einged�mmt hat, w�hrend die Tsipras-Regierung (2015-2019) mit ihrer laxen Politik f�r �berf�llte Fl�chtlingslager auf den ost�g�ischen Inseln gesorgt habe.

Wie berechtigt die Frage nach dem griechischen Anteil an der Verantwortung f�r den Tod von mindestens 600 Menschen ist, wird von Tag zu Tag deutlicher. Zum Stand vom 20. Juni 2023 sind insbesondere folgende Aspekte der Trag�die ungekl�rt, die das Verhalten der HCG betreffen:

1. Obwohl das Fl�chtlingschiff etwa 11 Stunden lang nicht man�vrierf�hig war und die Fahrt Richtung Italien nicht fortsetzen konnte, verzeichnet das HCG-Protokoll f�r diesen Zeitraum eine „stetige Fahrt in Richtung Italien.“
2. Der �ltanker Faithful Warrior, der das Boot mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgte, wurde von der HCG aufgefordert, weiterzufahren; der Kapit�n wurde ausdr�cklich von seiner v�lkerrechtlichen Verpflichtung entbunden, sich f�r eine m�gliche Rettung der Fl�chtlinge bereit zu halten.
3. Es gibt inzwischen mehrere Aussagen von �berlebenden, wonach das PPLS 920 in der Nacht zwei Mal versucht habe, das havarierte Fl�chtlingsschiff abzuschleppen; beim zweiten Man�ver habe es so heftig gezogen, dass das Boot ins Schwanken geriet und kenterte. Die Aussagen unterscheiden sich nur in der Einsch�tzung, ob die HCG die Fl�chtlinge in Richtung Griechenland oder in Richtung Italien schleppen wollte, um das Problem in die italienische SAR-Zone zu verschieben.(22)
4. Die griechische K�stenwache hatte den Abschleppversuch drei Tage lang verschwiegen. Neuerdings gibt sie ihn zu, behauptet aber, das Man�ver habe zwei Stunden vor dem Sinken stattgefunden.
5. Der Pressesprecher der HCG hat versichert, zur Operation ihres Bootes gebe es keine Kameraaufzeichnungen, obwohl PPLS 920 �ber Nachtsichtkameras und eine Nachtsichtvideo-Ausr�stung verf�gt. Zeugen wollen gesehen haben, dass der Kapit�n des Bootes dem Kommandeur der K�stenwache eine Diskette mit optisch-akkustischem Material und eine Kopie des Logbuches ausgeh�ndigt hat. Ob dieses Material bei der Staatsanwaltschaft von Kalamata gelandet ist, ist unbekannt.

Das Misstrauen gegen�ber den offiziellen Ausk�nften der griechischen K�stenwache, das sich auch in den internationalen Medien spiegelt, ist nur zu verst�ndlich. In der Vergangenheit haben sowohl die HCG als auch die griechische Regierung wider besseres Wissen beharrlich geleugnet, dass in der �g�is an den Grenzen der griechischen Hoheitsgew�sser zur T�rkei jemals Pushback-Aktionen stattgefunden haben. Diese v�lkerrechtswidrige Methode, Bootsfl�chtlinge aus den eigenen Hoheitsgew�ssern zu vertreiben, wurde aber seit Jahren von humanit�ren NGOs und internationalen Medien vielfach dokumentiert. Gerade in Sachen Pushbacks hat Regierungschef Mitsotakis wiederholt �ffentlich gelogen (wie in mehreren Texten auf diesem Blog dargelegt). Erst vor einem Monat hat die New York Times �ber einen mit Video-Dokumenten belegten Pushback-Fall vor der ost�g�ischen Insel Lesbos berichtet. Darauf angesprochen, hat Mitsotakis in einem CNN-Interview vom 23. Mai erstmals nicht ausgeschlossen, dass es solche „absolut unakzeptablen“ Praktiken gegeben haben k�nnte. Aber auch in diesem Fall sagte er die Unwahrheit, als er behauptete: Der Vorfall „wird von meiner Regierung bereits untersucht“.

Im Fall der Bootskatastrophe vom 14. Juni ist eine gerichtliche Untersuchung unvermeidlich. Auf das Wahlergebnis vom kommenden Sonntag wird dies keinen Einfluss haben. Mitsotakis und die ND haben die „Fl�chtlingsfrage“ erfolgreich zu einer Frage der „nationalen Souver�nit�t“ gemacht. Und die ist f�r die griechischen W�hlerinnen und W�hler so heilig, dass keine Partei es wagen kann, die berechtigten Zweifel konsequent zu thematisieren.

Anmerkungen

1) Der Bonus f�llt auch dann an die st�rkste Partei, wenn diese nur einen winzigen Vorsprung vor der zweiten Partei hat. In fr�heren Fassungen waren das automatisch 50 Sitze; nach der neuen Fassung h�ngt deren Zahl vom Stimmenanteil der st�rksten Partei ab. Bei 25 Prozent stehen ihr nur 20 Sitze zu; aber diese Zahl erh�ht sich mit jedem halben Prozent um einen weiteren Sitz. Mit 30 Prozent erh�lt die beg�nstigte Partei also 30, mit 35 Prozent 40, und ab 40 Prozent 50 Bonussitze. Das alte neue Bonus-Wahlsystem kam am 21. Mai noch nicht zur Anwendung, weil die �nderung vom Januar 2020 erst f�r die �bern�chsten Wahlen in Kraft trat. F�r die n�chsten Wahlen h�tte es nur gegolten, wenn das Parlament die Wahlrechts�nderung mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet h�tte, was nicht der Fall war.

2) So die �bersetzung der Mitsotakis-Botschaft in einem Kommentar der EfSyn vom 10. Juni 2023, der durchaus nicht satirisch �berzogen ist.

3) So im samst�glichen Morgenmagazin des TV-Senders Skai vom 10. Juni 2023.

4) Das berichten fast alle griechischen Medien, siehe etwa: Ta Nea vom 22. Mai 2023: „Der politische Big Bang hat auch die ND-Zentrale �berrascht“.

5) Die Zahl der Syriza-Stimmen ging von 1,78 auf 1,18 Millionen zur�ck; die Wahlbeteiligung stieg um drei Prozentpunkte auf 60,94 Prozent.

6) Diese Exit polls wurden gemeinsam erarbeitet und verantwortet von den Instituten Pulse, Alco, GPO, Marc, Metron Analysis und MRB. Die Exit polls von Kapa Research prognostizierten f�r die ND ein halbes Prozent mehr, f�r Syriza ein halbes Prozent weniger; hier war der Abstand also 12 Prozent.

7) Siehe EfSyn vom 25. Mai und Kathimerini vom 28. Mai 2023.

8) So Vertreter der Institute Rass und Pulse; zitiert in Ta Nea vom 24. Mai und Efsyn vom 25. Mai 2023.

9) So Giorgos Arapoglou in der Efsyn vom 25. Mai 2023.

10) Giorgos Yiannoulopoulos in EfSyn vom 27. Mai und Yiannis Petrenteris in Ta Nea vom 25. Mai 2023.

11) Die hier aufgef�hrten Zahlen �ber die W�hlerbewegungen weichen von denen in meinem LMd-Text genannten ab; sie beruhen auf einer genaueren Auswertung der Resultate der Exit polls durch das Institut Public Issue (nach dem sogenannten Quadratic Programming Model). Siehe die ausf�hrliche Analyse von Yiannis Mavris vom 6. Juni 2023.

12) Interview mit dem Chefredakteur von Kathimerini vom 28. Mai 2023.

13) Der Mythos des Stadtteils geht auf den militanten Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg zur�ck, als Einheiten der ELAs im M�rz 1944 die Wehrmacht im „Kampf von Kokkinia“ aus dem Viertel vertrieben. Die Rache der Nazi-Truppen und ihrer griechischen Kollaborateure folgte im August 1944: Nach einer Razzia wurden 78 griechische K�mpfer sofort exekutiert und an die 3000 Menschen als Geiseln festgenommen, von denen viele zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurden.

14) So auch die Kritik von Kostas Pieridis in der EfSyn vom 28. Mai 2023: Die Syriza habe sich als „Regierung im Wartestand“ deklariert, nicht aber als Partei, die jenseits des Parlaments in der Gesellschaft verankert ist.

15) EfSyn vom 25. Mai 2023; ganz �hnlich argumentierte die Sozialwissenschaftlerin Danai Koltsida: „Die Syriza versuchte alle m�glichen gesellschaftlichen und politisch-ideologischen Zielgruppen zu bedienen, was dazu f�hrte, dass die Botschaft letztlich unklar und widerspr�chlich ausfiel“ (EfSyn vom 28. Mai). Zu dieser Einsicht bekannte sich auch Tsipras selbst im Kathimerini-Interview vom 11. Juni, in dem er einr�umte, die Syriza habe kein „koh�rentes Bild“ geboten.

16) Siehe meinen Blog-Text vom 23. November 2022.

17) Siehe meinen Blog-Text vom 7. Oktober 2021.

18) Siehe meinen Blog-Text vom 16. Mai 2023.

19) Siehe meinen Blog-Text vom 13. August 2018.

20) Diese Position vertrat er auch gegen�ber der ND: keine Regierungsbeteiligung mit einem Ministerpr�sidenten Mitsotakis. F�r eine Zehn-Prozent-Partei war das eine k�hne Aussage.

21) So Tassos Giorgiannoulopoulos EfSyn vom 10. Juni 2023.

22) Die Aussage eines geretteten Pal�stinensers lautete (nach Kathimerini vom 20. Juni 2023): „Das griechische Schiff [der K�stenwache, NK] befestigte ein Tau am vorderen Teil unseres Schiffes und begann langsam zu ziehen, aber das Tau ist gerissen. Danach probierten sie es mit einem Tau, das sie zwei Mal festmachten … Beim zweiten Mal hatten wir zun�chst das Gef�hl, dass sie uns ziehen, aber dann geriet unser Schiff in Schieflage. Das griechische Schiff legte an Tempo zu, und wir riefen auf Englisch „STOP“. Wir schrien alle, aber die haben uns nicht verstanden. Als sie uns am Anfang das Tau zuwarfen, waren wir noch ganz ruhig, weil wir dachten, dass sie uns nach Italien schleppen. Beim zweiten Mal neigte sich das Schiff zuerst nach links, dann nach rechts und danach kippte es einfach um [und versank, NK]."


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