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ADB:Griesinger, Wilhelm

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Artikel „Griesinger, Wilhelm“ von Melchior Josef Bandorf in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 669–670, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Griesinger,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 5. Dezember 2024, 02:09 Uhr UTC)
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Griesinger: Wilhelm G., Arzt, geboren den 29. Juli 1817 in Stuttgart, genoß seine Vorbildung am dortigen Gymnasium, bezog Ostern 1834 die Universität Tübingen, welche er, wegen eines Studentenstreiches dimittirt, 1837 auf ein Jahr mit der von Zürich, wo Schönlein wirkte, vertauschen mußte. Von dort zurückgekehrt, absolvirte er die Examina, begab sich auf längere Zeit nach Paris und machte zunächst einen Versuch mit der Privatpraxis, bis er 1840, von seinem Freunde Wunderlich aufmerksam gemacht, die Assistentenstelle an der Irrenheilanstalt Winnenthal unter Director Zeller übernahm. Zwei Jahre später schied er aus dieser Stellung und ließ sich, nachdem er nochmals Paris besucht und kürzere Zeit in Wien verweilt hatte, in seiner Vaterstadt als Arzt nieder. Wieder war es der Einfluß Wunderlich’s, welcher ihn der Privatpraxis entzog, indem G. im Herbste 1843 als dessen Assistent an der medicinischen Klinik nach Tübingen ging und sich zugleich als Docent habilitirte. 1847 wurde er außerordentlicher Professor, 1849 nahm er einen Ruf als Ordinarius nach Kiel an, folgte aber schon im ersten Jahre seines dortigen Aufenthaltes einem Anerbieten des Vicekönigs von Egypten, welcher ihm die Leitung des gesammten egyptischen Medicinalwesens und die Direction der medicinischen Schule in Kairo übertrug. Mit getäuschten Hoffnungen kehrte er nach zwei Jahren in seine Heimath zurück, wo er sich nun mit der Verarbeitung des in Egypten gesammelten Materials beschäftigte. Von Ostern 1854 bis dahin 1860 versah er die Professur der inneren Klinik zu Tübingen, dann jene in Zürich, von wo er im März 1865 als Director der Poliklinik und dirigirender Arzt an den Charitéabtheilungen für Gemüthskrankheiten und für Nervenkrankheiten nach Berlin abging. 1867 gab er die Poliklinik ab und widmete sich ganz den Gemüths- und Nervenerkrankungen. Er starb zu Berlin am 26. October 1868 an Lähmung in Folge von Wunddiphtheritis, welche zu einem vom Wurmfortsatz ausgehenden Senkungsabscesse getreten war.

G. gehörte zu dem Kreise jener Aerzte, welche in den vierziger Jahren den Umgestaltungsproceß der deutschen Medicin begannen. Mit seinen Freunden Wunderlich und Roser betheiligte er sich an der Gründung und Herausgabe des Archivs für physiologische Heilkunde, welches die Bekämpfung der Mängel der damaligen deutschen Medicin und die Herbeiführung einer entschiedenen wissenschaftlichen Richtung in derselben zu seinem Programme machte. Neben kritisch-polemischen und speculativen Artikeln lieferte G. bald eine Reihe von positiven Beiträgen, unter welchen besonders hervorzuheben sind die über Gehirn- und Nervenkrankheiten, sowie die in Egypten gesammelten Beobachtungen, welche letztere auch die Veranlassung zur Bearbeitung seines ausgezeichneten Lehrbuches über Infectionskrankheiten bildeten. In [670] ganz hervorragender Weise wirkte er auf dem Gebiete der Psychiatrie. Schon 1845 erschien als Frucht seines zweijährigen Aufenthaltes in Winnenthal sein Lehrbuch: „Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“, in welchem er bereits neben der noch dominirenden rein psychologischen Auffassung die Resultate der Nervenphysiologie zu verwerthen wußte, der pathologischen Anatomie den gebührenden Platz einräumte und die Therapie auf die Pathologie zu stützen suchte. Das Werk fand besonders in seiner 1861 erschienenen erweiterten Auflage allgemeine Anerkennung und gilt noch heute unbestritten für das beste psychiatrische Lehrbuch. Während seiner Tübinger Wirksamkeit hielt G. über zehn Jahre regelmäßige Vorträge über Psychiatrie und nahm in seine Klinik, so oft sich Gelegenheit bot, Fälle psychischer Erkrankung auf und machte sie, wie jede andere Krankheit, zum Gegenstand klinischer Demonstration und Besprechung. In der letzten Zeit seines Aufenthalts in Würtemberg stand er auch der Idiotenanstalt Marienberg vor. In Zürich wandelte er die Irrenanstalt im alten Hospitale in eine Klinik um und besorgte die Vorarbeiten und Pläne für die neue cantonale Irrenheilanstalt. Als ihn dann der Ruf nach Berlin traf, machte er es zur ersten Bedingung seiner Annahme, daß ihm neben der Irrenklinik eine neuzuerrichtende für Nervenkranke übergeben werde. Die so oft betonte Zusammengehörigkeit der Psychosen mit den übrigen Nervenkrankheiten war damit zum ersten Male auch äußerlich dargestellt und praktisch durchgeführt; ihre engere Verbindung zu vollziehen, sollte G. leider nicht mehr gelingen. Eine weitere Consequenz dieser Vereinigung war die Herausgabe des Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, in dessen ersten Heften die Artikel Griesinger’s über Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland, über die freie Behandlung und über psychiatrische Kliniken alsbald die lebhafteste Discussion hervorriefen. Mitten in derselben starb G., aber heute nach 10 Jahren sind seine Forderungen zum Theil erreicht, zum Theil ihrem Ziele näher gebracht. Die freie Behandlung hat nicht nur im Principe, sondern weithin in der Praxis den Sieg errungen. Die Einführung des psychiatrischen Unterrichtes hat bedeutende Fortschritte gemacht, die endgültige Erfüllung der Griesinger’schen Postulate ist blos noch eine Frage der Zeit. Die Vorschläge zu anderen, insbesondere freieren Verpflegsformen für die Geisteskranken stehen zwar ihrer Durchführung noch sehr ferne, erst kleine Anfänge sind gemacht, aber es ist nicht zu zweifeln, daß die Schwierigkeiten, welche sich ihnen noch entgegenstellen, überwunden werden.

Biogr. von Wunderlich, Archiv für Heilkunde, 10. Jahrgang, 2. Heft. Westphal u. Lazarus, Archiv f. Psychiatrie u. Nervenkrankh., 1. Band, 3. Heft.